Axl Rose konnte ich nie leiden, und als er 2016 bei AC/DC auf der „Rock or Bust“-Tournee aushelfen musste, während Brian Johnson ’nen Hörsturz auskurierte, war ich entsetzt! Der Guns N’ Roses-Sänger, ewig wandelnde Schlägervisage mit loddrigen Jahren, knödelte nach 23 Jahren Bühnenabstinenz vorn im Licht auf einem Podest „Shoot to thrill“ und anderes Zeugs im Sitzen ins Mikro, weil er sich das Bein gebrochen hatte. Wie AC/DC-Chef Young mit seiner Angusitarre um ihn herum tänzelte, das sah ziemlich bedeppert aus. Nichtsdestoweniger hatte die Band nur lobende Worte für den „Gunner“ übrig, weil er ihr in einer schwierigen Lage geholfen hatte. Ich nahm’s zur Kenntnis. Johnson ist wieder fit und Rose für AC/DC verblüht.

Ich müsste dankbarer sein, viel, viel dankbarer

Dabei müsste ich dem Axl im Walde der Hard ’n’ Heavy-Szene dankbarer, viel, viel dankbarer sein, denn ohne Guns N’ Roses wäre ich durchs Abitur gerasselt. Das kam so: Ein Schulfreund, dessen Vater mein Mathelehrer war, lud mich zu sich nach Hause ein. „Jens, komm vorbei, ich habe die Scheibe von den ’Gunners‘, die ziehen wir uns rein.“ Das taten wir. Das Debüt „Appetite for Destruction“ war einige Wochen zuvor mit Donnerhall erschienen; der Titel des ersten Longplayers dieser in den Folgejahren suizidal verglühenden Rockgruppe, die unter den Eskapaden und Streitigkeiten zwischen Axl, dem Untier, und Slash, dem Saitenmonster, zugrunde ging, war fortan Programm für das Quintett aus Los Angeles. Egal, für über 100 Millionen verkaufte Alben weltweit hat sich das gegenseitige Polieren der Futterluken gelohnt.
Ich schweife ab … jedenfalls saß ich mit meinem Kumpel im Achtzigerjahre-Halbstarkenzimmer und hörte „Paradise City“, als mein Pauker anklopfte. „Jens, denk dran, nächste Woche ist Klausur, bereite Dich vor, sonst setzt’s was! Ich komme gerade aus meinem Arbeitszimmer, wo ich die Aufgaben zusammenstelle. Muss aber schnell mal weg. Bin in einer Stunde wieder da. Ihr versteht das, ja? … In einer Stunde … Okay?“
Und wie okay das war! Wir schummelten uns zum Schreibtisch, während Slash seine scharfen Salven aus bebenden Boxen schoss. „Paradise City“ ist wie ein Topf Chili con Carne auf bläulich flammendem Gasherd; die Grundsubstanz ist klar definiert, aber erst das zusätzliche Würzen rundet‘s ab. Wo also die Rhythmusgitarre die Scheibe noch gesittet eröffnet, gesellen sich schnell gepeitschte Drums dazu, schneidender Gesang setzt ein. Alles hübsch aufeinander folgend, bis nach einer Minute Slash schon zum ersten Solo anhebt und die Nummer auf den Chilischärfegrad einer Carolina Reaper anhebt. Schweiß auf der Stirn, das Ringen nach Luft, der Herzschlag erhöht:

Take me down
to the paradise city,
Where the grass is green
and the girls are pretty.
Take me home, yeah yeah.

Axl Rose kräht wie eine Kreissäge, doch teilt er nicht das Gemenge, sondern fügt es zusammen, ist Schmierstoff für alle Rädchen, die hier ineinandergreifen. Kraftstrotzend toben sich die Gunners aus, und obgleich ich davon ausgehe, dass eine Komposition von vornherein klar strukturiert ist, kommt es mir vor, als ob sich jeder seinen Part nicht mit, sondern auch gegen die anderen erkämpft. Daraus entsteht eine dramatische Spannung, die wir Rockenden schon früh bei The Who hörten, jenen vier britischen R’n’B-Pionieren, die sich nicht leiden konnten, schon bevor sie Stars wurden, und die ihren Ärger untereinander in hochenergetische Bühnenshows und Kompositionen ummünzten.
„Paradise City“ – echt gepfeffert! Und die Matheklausur habe ich bestanden, gerade so. Danke, Axl, alte Säge.