Gemeinhin wird mir zur Last gelegt, nicht genug Bono in den Ohren zu haben und darob U2 hier vermeintlich zu ignorieren. Stimmt nicht, Freunde, heute kommt der Tag, an dem ich tatsächlich einen Song dieser Band vorstelle, die mich einstmals bei einem Konzert auf dem Expo-Gelände in Hannover dermaßen gelangweilt hatte, dass ich, auf den Tresen einer Frittenbude gelehnt, fast in meine Currywurst geplumpst wäre. Er heißt „One“ … und Johnny Cash spielt ihn außergewöhnlich berührend!

Eine Stimme wie aus der Tiefe des verzauberten Brunnens an moosigen Steinen emporsteigend, golden schimmernd hinauf zum Licht, wo Liebe wartet und zerbricht. Wenn Johnny Cash nicht jeden Ton trifft, klingt er am besten; mir scheint, dass die brüchige Eleganz seines Timbres dem starken Song eine Konsistenz unterrührt, die fülliger ist als bei jeder anderen von den Urhebern und weiteren Musikern gespielten Version (Joe Cocker, Cowboy Junkies, Ray Wilson). Nur die Gitarre, nichts anderes begleitet ihn.

Cash gelingt ein für „One“ gewinnbringendes Downsizing. Er führt ein tiefgründiges Gespräch mit seiner Sechssaitigen und schafft einen irrwitzigen Gegensatz zwischen der in seinem düsteren Gesang zum Ausdruck gebrachten Verzweiflung zweier Liebender und dem fortwährenden Tirili des Instruments. Das bravouröse Moll, das der „Man in Black“ aus Arkansas – stilprägend für Generationen von Musikern – in jedes Wort webt, vertäut er im Geflecht der strömenden, mit Hoffnung durchsetzten Melodie. Seine Stimme droht zu brechen, aber seine Finger bleiben an Griffbrett und Korpus, halten Träume stabil, die am Ende doch Trauma werden, wenn der letzte Ton über dem Schallloch verwelkt. Ich bemühe das Wort genial selten, aber hier will ich es tun: Diese Performance ist eine musikalisch perfekte Umsetzung dessen, was der Text zu uns trägt, eine Offenbarung feinster Popkultur.

We’re one but we’re
not the same
We get to carry each other,
carry each other
One!

Wir sind eins, aber nicht dieselben. Die Liebe kann ein Monster sein. Cashs Version von „One“ ist so irritierend realistisch, dass jeder, der sie hört, dem Leben immer und grundsätzlich kritische Fragen stellen sollte, damit das, was der Meister hier eiswürfelcool vorträgt, sich niemals zu einer eigenen Wirklichkeit auswächst. Direkt grausam schleichend, wie kleinste Dosen Arsen, dringt sein Spiel mit den Emotionen durch Haut und Haar; mit dem stählernen Sechser hält er Kurs, aber seine Lippen, sein Mund, seine Bänder im Verborgenen vermitteln die Verzweiflung, dass die Liebe vom Weg abgekommen ist und die Dunkelheit hereinbricht.

„One“, im Jahr 2000 auf dem dritten seiner „American Recordings“-Albumserie veröffentlicht, knistert wie das Lagerfeuer eines Cowboys, der einsam unterm Großen Wagen verzweifelt nach einer Sternschnuppe Ausschau hält. Ja, es ist Country und doch sprengt der Mann, der in den Vereinigten Staaten von Amerika zu den größten Helden populärer Musik zählt, hier eine Grenze zwischen den Genres. Die vier Iren von U2 tun es ihm gleich, weil sie ihm ihr Meisterwerk, das nach einigen Krisen und Reibereien 1990 zum Kit für ihr Comeback wurde, zur Verfügung stellten.
Andere taten das auch. Als da wäre zum Beispiel „Personal Jesus“. Auch hier geschieht schier Unfassbares, auch hier wird das Original von Depeche Mode bleich und fahl von dem nur mit Gitarre und Gesang vorgetragenen Remake der Country-Ikone abgekanzelt. Was er, Cash, sicher nicht wollte; ihm ging es allein darum, tolle Songs auf seine Weise zu interpretieren.