Nicht das Brot hat Geschmack, sondern die Kruste, und wo uns Rockenden die popmelodramadösigen Verschandelungen, die sich seit geraumer Zeit wie Kaugummi von Sender zu Sender ziehen, auf die Nerven gehen, sehne ich mich mehr und stärker nach Nummern, die sich unersättlich wie aus eigenem Schatten katapultieren und nicht den Anspruch erheben, es jedem recht machen zu wollen. „3 a. m.“ macht in dieser Hinsicht alles richtig.

Sicher kein Übersong, aber auch weit, weit entfernt, bedeutungslos zu sein, und deshalb glänzt er auch Jahrzehnte nach seinem Entstehen wie frisch gestrichen. Wie Grillkohle mit Brandbeschleuniger fühlt sich das Lied an, da Rob Thomas seine Mikrofonarbeit inbrünstig aus rauem Halse beginnt, die vermuten lassen könnte, dass er als Refluxpatient wohl regelmäßig beim Doc aufkreuzen muss. Er formt nicht seine Lippen allein, er spielt nicht mit Zunge und Stimmbändern, sondern presst seine Worte hinauf; es ist eine Mischung aus Verzweiflung und Wut, die im Kontext zu erkennen ist. In der Tat hat dieses gehaltvolle Moment eine tief greifende Basis.

Denn die US-Band Matchbox 20, hierzulande eher die Rolle des Underdogs einnehmend, während sie in den Vereinigten Staaten zwischenzeitlich zum Rockhotspot entflammte, haut auf dem Album „Yourself or someone like you“ eine sehnige Nummer raus, hinter deren roher Garderobe inhaltliche Substanz mit realem Hintergrund steckt. Chef Rob Thomas, seines Zeichens außerdem von solch begnadeter Songschreiberqualität, dass er auch für Größen wie Joe Cocker und anderen einiges auf Papier kritzelte, was später zum Hit wurde, soll „3 a.m.“ bereits als Zwölfjähriger in einer verzweifelten Situation geschrieben haben, damals, als er seine krebskranke Mutter betreute. Für einen Jungen in diesem Alter ein apokalyptisches Erlebnis. In jedem Wort erkenne ich sein stilles Flehen, auf dass die Zeiten besser werden mögen, obwohl Thomas es nicht explizit eindeutig so verpackt. Es ist vor allem das Gefühl, das er hier vermittelt.

And she says baby
It’s three a.m. I must be lonely. When she says baby
Well I can’t help but be scared of it all sometimes.
And the rain’s gonna wash away I believe this.

„3 a. m.“ bedeutet „three after midnight“. Rob Thomas läuft verzweifelt durch die regnerische Nacht, sucht nach Wärme, sucht nach Trost, ja, vielleicht sucht er sogar Gott. Auf dass die Situation sich zum Positiven ändern möge. Ich habe lange nicht gewusst, dass dieses Lied einen solchen Hintergrund hat. Ich dachte immer, es geht um eine zerbrochene Liebe. Aber nicht doch: Rockmusik kann mehr; sie ist definitiv in der Lage, einen mutigen, raumgreifenden Sound mit den Unbilden des Lebens sprichwörtlich in Einklang zu bringen – vermutlich ist es sogar einer der wichtigsten Aspekte überhaupt. Durchaus verleihe ich den Mannen von Matchbox 20 das Etikett, nicht bis ins letzte Detail hier hochzukochen, aber dennoch blubbert die Suppe schmackhaft hinauf, kocht nicht über, sondern brodelt schäumend bis zum Rand.

Rob Thomas singt aufgeregt, bisweilen ein bisschen so, als wenn er ein Hornissennest in der Unterhose hat, fast hektisch – aber eben dies ist nicht nur seine ureigene Art zu interpretieren, sondern transportiert den Inhalt des Textes wirkungsvoll. Dieses ausgewogene Saitenspiel aus akustischer Lagerfeuerklampferei und sensenden E-Gitarren-Vibes schneidet wie ein Wind aus Nordost. Alles, was Matchbox 20 hier raushauen, schwankt unheilvoll zwischen Niedergeschlagenheit und dem Mute der Verzweifelung. Nicht nur nach Mitternacht.