Als Lou Gramm 15 Jahre jung war, hat er sich heimlich aus dem Staub gemacht, um die Rolling Stones live zu erleben. Das war 1965. Dafür gab‘s vier Wochen Hausarrest. Jahre später teilte er als Sänger der britisch-amerikanischen Rockband Foreigner die Bühne mit den bösen Jaggerbuben für ein paar Gigs im Vorprogramm, griff zum Telefon und rief seinen Vater an. „Ich hab‘s wieder getan“, soll er gesagt haben. Beide lachten. Den Platz im Rampenlicht hatte sich der gebürtige New Yorker redlich verdient, denn Songs wie „Cold As Ice“ oder „Juke Box Hero“ verlieh er mit seiner leidenschaftlich sehnigen Performance den richtigen Turn, ob auf Partys, im Auto oder als Wachmacher nach durchzechter Nacht – und machte sie zu Monsterhits! Sie passten immer und überall.

Was nicht immer passte, war die Chemie zwischen ihm und Foreigner-Chef Mick Jones. Weshalb es 1987 zum (ersten) Bruch kam. Lou Gramms Stimme räucherte trotzdem so deftig aus den Boxen meines alten Radiorekorders, wie blauer Rauch über Nackensteak aufsteigt. Weil er mit „Ready Or Not“ ein ziemlich gutes Soloalbum auf den Weg gebracht hatte und „Midnight Blue“ als kraftvolle Stampede in die Singlecharts kneterte. Wie Sandpapier schmirgelt das Gitarrenriff die Textur dieses zeitlosen Rocksongs; dessen Maserung ist ein Wechsel aus leidenschaftlich gemölmerten Uptempostreifen und cleveren Breaks. Gramm keltert das Mitternachtsblau aus grippeheiserer Kehle, die mit Raufaser tapeziert zu sein scheint, überspringt zum Finale die nächste Oktave, wird borstig und wild. Im Schlepptau ein Schlagzeug mit bombiger Durchschlagskraft; es rumst wie Fausthiebe gegen die Einsamkeit, drängt die Hörenden zurück ins Licht, auf die Tanzfläche.

And I remember what
my father said
He said „Son, life is simple“
It’s either cherry red or
Midnight blue, oh, oh
Midnight blue, oh, oh

Das Leben – kirschrot oder mitternachtsblau ist es, das habe ihm sein Vater gesagt, heißt es in einem Textteil, und in der Tat wechselt die Stimmung hier! „Midnight Blue“ ist eine Ampel mit zwei Farben, kein Schwarz, kein Weiß, sondern solche Kolorationen, die wir mit den Venen und Arterien verbinden – und in diesen Adern, ob zum Herzen führend oder von dort hinfort, überschlägt sich die Lebenssuppe Gischten sprühend. Wir spüren das Wellenspiel deutlich, nehmen die Zweifel wahr, das Warten, die Melancholie und Sturmflut der Liebe und Liebenden.

Gramm ist hier ein Pfund! Dieser Song ist relativ simpel gestrickt, aber wo die populäre Musik so immense, verzwirbelte, verschrobene, wundersame wie -bare Ausbrüche à la Pink Floyd, Colosseum und Vanilla Fudge zu wuppen hat, benötigt sie immer wieder auch die auf den Punkt gebrachten Dreieinhalbminüter mit Ausblende als gut konsumierbares Korrektiv. „Midnight Blue“ bewahrt sich dennoch – und nicht zuletzt aufgrund des weit interpretierbaren Inhalts – sein geheimnisvolles Wesen und trägt das mystische Blau der Nacht mit seinem kalten, fahlen, über feuchten Asphalt streunenden Mondlicht, bis in unsere Gedankenwelten. Und macht uns womöglich, wenn wir es nur zulassen, zu denjenigen, die die Sonne auch im strömenden Regen spüren können. Bisweilen können wir selbst entscheiden, ob die Mitternacht in gewöhnlichem oder königlichem Blau erstrahlt.

Ich mag diesen Volltreffer Lou Gramms total. Ich schiele aber nicht auf die ergötzlichen Zeilen, sondern höre und tanze und spiele Gitarre. Luftgitarre leider nur, zu mehr war ich bislang nie fähig. Hört sich aber gut.