Die Wege des Herrn Bailey sind unergründlich. Dass ausgerechnet der Falsettgesang ihn aus dem Kirchenchor seiner Geburtsstadt Denver zum Soul und Rhythm’n’Blues führte, war jedenfalls sehr ungewöhnlich. Nicht gerade ein Ideal für diese Branche. Aber so geschah es – und dann wurde Philip Bailey einer der führenden Köpfe von Earth, Wind & Fire. Was mich dennoch davon abhält, über das fahrstuhlmusikverhunzte „September“ zu sinnieren oder mich im Kokolores des „Boogie Wonderland“ zu verfangen, sondern lieber ein Meisterwerk ins Licht zu rücken, dass er 1984 solo veröffentlichte: „Walking on the chinese wall“ ist, als ob wir pilgerten in fernen Weiten auf dem Pfad der Tugend, suchend nach Frieden und Freiheit, greifend nach Liebe und Menschlichkeit.

Zwischen Klagelied
und Festgesang

Den choralen Einschlag hat sich der Künstler bewahrt, webt zwischen Klagelied und Festgesang einen dem Soul und Rock zugewandten Klangteppich. Immer voran auf der Großen Mauer, über 20 000 Kilometer weit. Ich spüre den Stein unter den Füßen, die Stufen, das Auf und Ab. Des Wegs. Des Lebens. Ein phänomenales Musikstück, komplex, nicht verkopft. Dass der Bass von Nathan East angeschlagen, die Gitarre von Daryl Stuermer gespielt, das Schlagzeug von Phil Collins bearbeitet wird und zusammen mit den fabelhaften Phoenix Horns quasi schon zwei Drittel der Livecombo Collins‘ dieses Werk befeuern, erklärt seine raffinierte Vielschichtigkeit.

„Now the sun
is rising in the east.
Looking for my golden fleece.
Ivory skin.
Scarlet colour deep.
Lips that burn
but do not speak.“

Jetzt geht die Sonne im Osten auf. Auf der Suche nach meinem Goldenen Vlies. Elfenbeinfarbene Haut. Scharlachrote Farbe. Lippen, die brennen, aber nicht sprechen. – Wenn Popmusik poetische Momente hat, geht das tief, und es ist nie, auch hier nicht, die Frage, ob wir Tanzenden zu verstehen in der Lage sind, was der Songwriter exakt meint, sondern vielmehr, ob es uns anrührt. Ergriffenheit, Zauber – das ist es, worum sich die Sache dreht. Mich bringt „Walking on the chinese wall“ zum Schweben, obwohl die Rhythmik nicht dazu angetan ist; sie wird verzögert dann und wann. Die Bläser stechen überraschend durchs Notengeflecht, wie Sonnenstrahlen, die es an einem regnerischen Tag schaffen, das Grau doch noch zu schlitzen.
Ebenso intuitiv donnern die Trommeln, massive Schläge und gefühlvolle Ticktacks, wo man sie erst einen Augenblick später erwarten würde. Nuancen wirken wie zeitversetzt; es ist, als wenn die Akteure bei der Aufnahme reflexhaft Verzögerungen rausgehauen haben, obwohl das Ganze wohl akribisch erarbeitet worden sein dürfte. Die Dramaturgie ist fulminant. „Walking on the chinese wall“ bringt mich auf meinen ganz persönlichen Pilgerweg, auf einen golden schimmernden Pfad zwischen Vergangenheit und Gegenwart; eine innere Reise in alle Himmelsrichtungen zu jenem Ende, wo ein Anfang ist.
Man verstieg sich seinerzeit – das Album „Chinese Wall“ wurde von Collins produziert – übrigens zu der Behauptung, der Platte würde noch ein Hit fehlen. Die beiden Phils setzten sich hin und schrieben schnell „Easy Lover“. Das ist ein starker Song, aber die Intensität von „Walking on the chinese wall“ toppt er nicht, deren liedhafte Dichtung mehr als ein Weg über die Große Mauer sein kann, die auf dem Plattencover abgebildet ist, sondern eine Reise beschreibt, die zu uns Hörenden selbst führt. Könnte Musik etwas Besseres jemals bewirken?