Ich war auf dem Weg nach Berlin. Ich saß mit bis unter die Murmelplatte freudig gespannten Bergdörflern in einem Reisebus, die in Sektlaune vorglühten. Sie nahmen Kurs auf die Grüne Woche, wo Ottenstein am 17. Januar 2002 im Saal 1 des Internationalen Congress Centrums die Goldmedaille als eines der schönsten Dörfer Deutschlands entgegennehmen durfte. Als Zeitungsonkel mit Filmkamera und Bleistift – Leute, es ist zwanzig Jahre her, da waren Digitalkameras so riesig, dass ich eine Sackkarre für den Transport gebraucht hätte – schlappte ich mit zittrigen Stelzen auf die Bühne. Bloß nicht stolpern vor großem Publikum. Jubel brandete auf. Ich wollte gerade die Arme ausbreiten, mich verneigen und mir das Mikro schnappen, als ich bemerkte, dass der Applaus gar nicht mir galt, sondern einem Persönchen, das ins Scheinwerferlicht trat, im kleinen Schwarzen umwerfend aussah und so schön zu singen begann wie ein Sommerwind im Pampasgras: Vicky Leandros.

Die Rockfans werden Eier
an meine Hauswand werfen

Die ultimativen Rockrüben, die gewohnt sind, in dieser Rubrik mit böllernden Beats und Blues bebombt zu werden, mögen Eier an meine Hauswand werfen. Ihnen rufe ich zu, ach ich singe sogar:

Lai-dai-dai-dai-dai,
Du weißt, ich liebe das Leben.
Lai-lai-lai-lai, la-lai-da-di-dai,
Lai-dai-la-la-la, la-la-lai.

Mehr braucht’s manchmal nicht zum Glücklichsein, glaube ich. Außerdem musste ich in dämlichen Konzertvorprogrammen und bei manchen Radiostationskrepierern schon so viel schlechten Rock und Pop ertragen, dass mir dann und wann in den Sinn kommt, lieber einen guten Schlager wie goldenen Riesling zu genießen. Kommt nur alle Jubeljahre vor, das mit dem Schlager, nicht das mit dem Riesling. Gerade habe ich so ’ne Phase. Während ich also in Erinnerungen schwelge und die Ottensteiner auch, die damals so stolz waren, dass ich fürchte, mancher von ihnen ist bis heute nicht nüchtern geworden, kommt mir hey, hey, Vicky, hey Vicky, hey, in den Sinn, die mit „Du weißt, ich liebe das Leben“ einen der schönsten Schlager der Siebzigerjahre gesungen hat – übrigens ihrem Vater Leandros Papathanasiou und Komponist Klaus Munro aus den Synapsen über die Finger aufs Notenblatt gestreuselt. Es ist ein quirliges Teilchen, das verführerisch wie duftende, noch warme Waffel mit Schokoglasur aus der Mitte schrumpelalter Käsebrötchen hervorschimmert. Ein Schlager, der Schlager war, weil er heute noch einer ist. Keine Spur von dem belanglosen „Wumbdawumbda“-Gebaren heutiger Produktionen, die aus dem Zentrum künstlerischen Vakuums mittels digitalem Soundgemenge so tiefgründig sind wie Gespräche zwischen räudigen Kötern. Hingegen Leandros‘ Gassenhauer vieles bietet, was gute Musik charakterisiert: Die Würde, sie handgemacht gespielt zu haben – eine starke Komposition trifft eine ungewöhnliche Kombination unterschiedlichster Instrumente. Mit dem Klavier und Vickys zart schmelzender Stimme wird „Du weißt, ich liebe das Leben“ eröffnet; bald schon gesellt sich ein Banjo dazu, dessen warme Wellen durch Spritzer einer Tuba in Wallung gebracht werden, woraus sich ergibt, dass aus anfänglichem Moll eine Dur-Stimmung wird, die genau dem entspricht, was der Songtext hergibt: Aus der Traurigkeit gescheiterter Beziehung ins Leben zurückzuspringen; eine Arschbombe ins Glücklichsein, aus Trotz, aus Trauer, aus der Befreiung heraus. Vicky Leandros singt grandios Und dass im Laufe der kaum mehr als drei Minuten schließlich auch noch Streicher im Hintergrund auftauchen, ist ein spektakuläres Tüpfelchen auf dem i der Liebe.