Hameln. Wenn Mustafa Al-Khazrage mit einem Kunden über die Feinheiten dessen Motorrades spricht, ihm Getriebedaten erläutert, die nicht stimmig zu sein scheinen, oder erklären muss, dass der Endantrieb und das ABS auf Herz und Nieren zu prüfen sei, dann wissen seine Gesprächspartner meistens nicht, was der junge Mann in den zurückliegenden Jahren geleistet hat. Denn er war als Flüchtling aus dem Irak nach Niedersachsen gekommen, konnte kein Wort Deutsch. Christian Raapke, Inhaber der Fuchs Motorrad GmbH im Hottenbergsfeld, sah in Mustafa „einen freundlichen, jungen Mann, dem wir eine Chance geben wollten“.

Diese Chance nutzte der 29-Jährige, weil er wusste, dass sie ihm neue Perspektiven schafft. Und nach bestandener Abschlussprüfung zum Kfz-Mechatroniker mit Schwerpunkt Motorradtechnik gehört der in Bagdad geborene Iraker jetzt fest zu Raapkes Top-Team. Mit geradezu schelmischem Unterton fügt der Chef hinzu: „Ich vermisse heute, dass wir wie zu Beginn Englisch mit ihm sprechen. Das war super, auch für uns. Aber sein Deutsch ist einfach zu gut geworden …“ Und Mustafa lächelt: „Ich bin so dankbar für alles!“

Wir, damit ist nicht nur die eingespielte Werkstatt-Mannschaft gemeint, sondern vor allem Christian Raapke und seine Frau Andrea. Im Laufe der Zeit hat sich zwischen ihnen und Mustafa eine starke Bindung entwickelt, geprägt von höchstem gegenseitigem Respekt und Dankbarkeit. Ein bisschen wie Eltern und Sohn. Mustafa, von zurückhaltendem, freundlichem und verständnisvollem Wesen, spricht von Chef und Chefin, aber was er tief im Herzen empfindet, dürfte weit darüber hinausgehen.

Die Raapkes wissen das, und natürlich erwarten sie von ihrem Mustafa gute Arbeit, Teamfähigkeit, Pünktlichkeit, Loyalität – aber dass er aus lauter Dankbarkeit vor ihnen auf die Knie fällt, nein, das käme den beiden nicht in den Sinn. „Wir können uns das doch gar nicht vorstellen, was er erlebt hat. Als aus religiösen Gründen Verfolgter die Heimat verlassen zu müssen, den eigenen Vater zurückzulassen und über Umwege in ein fernes Land zu flüchten, um in der Fremde neuen Halt zu finden, das ist eine sehr schlimme Erfahrung“, sagt Christian Raapke, der seinem Schützling mal eben sowohl Auto- als auch Motorradführerschein finanziert und eine Wohnung vermittelt hat. Gleich ganz in der Nähe der Werkstatt.

Dass Mustafa zu spät kommt, kam noch nie vor. „Vom ersten Tag an verlässlich, pünktlich, freundlich. Er war der beste Azubi, den wir je hatten“, sagt der Chef, der spürbar näher am Wasser gebaut hat als man es ihm rein von der kräftigen Statur zuerkennen würde. Ein Pfundskerl mit Herz, der die Welt ein bisschen verbessern will. Und seine Andrea der Kompass in vielerlei Hinsicht. Sie haben Mustafa Al-Khazrage ein Stück neue Heimat gegeben. Aus dem Azubi, der er war, ist ein Geselle geworden, auf den Verlass ist. Und der sich mit dem Team sowie auch den beiden Doggen des Hauses Lilly und Watson („Die sind echt groß, aber lieb.“) prima versteht.

Flucht über die Türkei und das Mittelmeer

Flucht Richtung Westen über Türkei und Mittelmeer. Einsame Tage und Nächte unter Fremden. Auffanglager Friedland. Ängste vor der Zukunft. Eine von den Behörden zugewiesene, schimmelige feuchte Butze in Bad Pyrmont, die den Namen Wohnung nicht verdient hat. Und so viel Misstrauen gegenüber dem Fremden. – Die Raapkes durchbrachen das Schicksal des jungen Mannes. Aus den Steinen, die das Leben ihm in den Weg gelegt hatte, bauten sie ihm einen Weg der Zuversicht, ohne daran zweifeln zu wollen, „dass gelebte Integration natürlich schon auch von beiden Seiten kommen muss“.

Es ist kein Geheimnis, dass es viel zu oft daran mangelt. Die zu Integrierenden müssen bereit sein, die Veränderungen positiv mit zu beeinflussen. „Das hat Mustafa getan; deshalb funktioniert es“, sagt Andrea Raapke. Glaube, Herkunft, Haut- und Haarfarbe – alles Makulatur. Andere Dinge spielen eine Rolle. Wichtigere. „Ich hatte schon als Praktikant gemerkt, dass es mir hier gefällt und dass sich alle so viel Mühe geben mit mir. Ich will jetzt etwas davon zurückgeben“, sagt Mustafa Al-Khazrage. Der übrigens das Weserbergland „richtig, richtig schön“ findet. „Hameln-Pyrmont ist super. Die Landschaft, die Dörfer, die kleinen Städte, das alles ist viel besser als die Metropolen. Ich bin sehr gerne hier.“ Manchmal fahre er zu einem Freund nach Hannover, aber wenn er sich wieder auf den Heimweg macht Richtung Rohrsen, dann spürt er, wie die Sonne aufgeht in seiner Seele, eine Sonne, die über lange Zeit nicht schien.