Aus gewitterschwerem Traum erwachend, kraftlos in den Gliedern und Blitze geistern durch matte Gedanken. Das Glockenläuten und der Gesang der Vögel künden von einem neuen Tag; wo der erste Sonnenstrahl durch die Gardine funkelt, fällt das Licht wie göttlicher Zauber in ein blinzelndes Auge und beginnt eine Seele zu umarmen, die aus den Träumen allmählich in die Wirklichkeit zurückkehrt. Unverbrauchte Momente sind die schönsten von allen; der Morgen fühlt sich in guten, wirklich guten Zeiten, ungefähr so an wie der purpurn leuchtende Gitarrenklang des Jethro-Tull-Klassikers „Skating away on the thin ice of a new day“.

Wie ein himmelsgleiches Kunstwerk auf Erden

Es ist nicht irgendein Song, es ist ein Lied, das sich in all den kaleidoskopischen Ausformungen kulturellen Lebens Bahn bricht wie ein himmelsgleiches Kunstwerk auf Erden. Die Leichtigkeit jedes Augenblicks dieses Dreieinhalbminüters ist gebunden an die vielzählig wie Perlen auf einer Kette aneinander geschnürten Klangerlebnisse. Die Gitarre: immerdar, eine Anführerin für alle anderen Instrumente, die sich Ian Anderson, Kopf der britischen Progressive Rocker, für dieses in allen Teilen ansteckende Stück einfallen lassen hat, das mir unendlich optimistisch vorkommt und das mir nicht bedeuten will, die Träume der Nacht platzen zu lassen, sondern die schönen von den schlechten zu trennen und sie in den Tag hinüberzuretten.

Wieviel positive Kraft ein einzelner Song wahrhaftig in sich tragen kann, ist schwer zu deuten. In Zahlen kann man es nicht messen, und wo der eine mit Abscheu und Entsetzen die Ohren wattiert, kräuselt sich einem anderen vor Entzücken jedes einzelne Härchen seines Körpers. Bei „Skating away on the thin ice of a new day“ wird es sich nicht anders verhalten, aber daran zu zweifeln, dass es sich hier um einen Rocksong höchster Güte handelt, wäre töricht. Natürlich ist er das: eine Offenbarung! Ian Andersons Stimme, 1974 in der Originalfassung leichter, dennoch kein Leichtgewicht, sondern gewandt und ausdrucksstark, bindet alles um sich herum wie ein Magnet.

Wärmend breitet sich der Klang eines Akkordeons aus, dazu fuchtelt die formidabel spielende Band ein Cajon aus dem Off ins Ohr – oder auf was auch da immer getrommelt wird: jedenfalls nichts, was zu laut ist. Dann das Xylophon: fast schon ein No-Go in der populären Musik, aber wer weiß, was er kann – und Ian Anderson wusste das schon immer –, der probiert akribisch alles aus. Dass schlussendlich die Querflöte, Andersons Paradedisziplin als „Rattenfänger der Rockmusik“, der auch in Hameln Konzerte mit der Gruppe gab, zum Einsatz kommt, ja, selbstredend! Damit wird das dünne Eis des neuen Tages gebrochen; das Abenteuer ist in vollem Gang.

„Locomotive breath“, „Thick as a brick“, das sind gute Songs, aber „Skating away on the thin ice of a new day“, wo die Klänge miteinander fangen spielen und die optimistischen Grundtöne den kreativen Glyphen Andersons wahrlich widersinnig gegenüberstehen, ist in meinen Muscheln um ein Vielfaches aufregender als vieles andere, was diese Gruppe zustande gebracht hat. Weil die Wildnis zur Sprache kommt, die man durchqueren muss, die eigene Leere Thema wird, in der man sich dreht, und das Ufer Erwähnung findet, von dem man sich entfernt und zu dem man nicht zurückblickt. Denn man wurde für die Menschheit gezüchtet und an die Gesellschaft verkauft …

Nun … jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, ist nicht anzuraten. Man wird ja seines Lebens nicht mehr froh. Lauschen wir lieber der schönen Melodie und weniger den düsteren Worten.