„Harbor Lights“ heißt Hafenlichter, und mit welchen Ohren ich dieses außergewöhnlich ästhetische Lied auch höre, trage ich doch stets das Leuchten der Laternen mit mir, selbst wenn ich Tausende Kilometer entfernt bin. Ich weiß, wie ihr Glühen schimmernd auf den Wellen zwischen Booten tanzt, ich erblicke ihren Schein auf dem alten Granitpflaster unten an der Rue de l‘Embarcadère, wo es nach Fisch und Tang duftet und ich eins bin mit der Welt. „Harbor Lights“ ist Bruce Hornsbys größer Schatz! Das harmonische Versmaß und die Textur des Instrumentalen sind zutiefst ergreifend wie Mascha Kalékos Gedicht „Für Einen“: Von einem Zauber umhüllt, der viel, viel schöner ist als die silbernen Perlenketten des Morgentaus auf dem Purpur-Sonnenhut.

Hornsby, Weltenbummler zwischen Jazz, Rock und klassischen Einsprengseln seit den Achtzigerjahren, vermag mit einem 57 Sekunden dauernden Pianointro Kalékos Gedicht fast adaptieren zu wollen; die bitterzart gespielte Einleitung ist bei allem, was in den weiteren sechs Minuten facettenreich folgt, das Herzstück eines Meisterwerks, weil es unglaublich melancholisch glimmt, ohne in Betrübnis zu verfallen.

We could go down
to the harbor lights,
Lay out on the sand
on the shore.
Let me take you down
to the docks at night.
Whatever you do I’ll do more.

Eine verführerische Aufforderung, der mein Herz nicht widersprechen will. Gehen wir hinunter, schreiten wir Hand in Hand, dort, wo das Ende der Meereswelten auch ihr Anfang ist. Meine Hafenlichter brennen an einem mir sehr bedeutungsvollen Ort an der bretonischen Atlantikküste; die anderer Menschen anderswo, jeder dort, wo er Heimat und Aufbruch in einem Atemzug verspürt. Hornsby verspürt diese Heimat auf der Klaviatur und in den unüberblickbaren Weiten der Musik. Hier, bei „Harbor Lights“, gebot er bei der Studioaufnahme 1993 alles auf, was ich mit der See verbinde.

Bei John Molos differenziertem Schlagzeugspiel, fein drainiert für Zwischentöne, denke ich an die Brandung, die ich vom Boulevard de Toulhars gegen den himmelweiten Strand peitschen sehe. Hornsbys schwarzweiße Flügelschläge, inmitten von Melancholie und Sturmflut, verleiten mich zu der Annahme, ein Seesternorchester lädt zur Muschelsinfonie. Und wo die warm gleißenden Klänge der E-Gitarre des Rockjazzers Pat Metheny wie goldene Tropfen aus lila Wolken träufeln, bisweilen in Schauern, dann und wann subtil gestreuselt, erblicke ich die Île de Groix friedvoll vor der Küste liegen, und weiße Segel kreuzen meinen Blick.

Bruce Hornsby hat viele beste Songs geschrieben; es tost ein Sturm in meiner Brust, dass ich hier nun nicht „The show goes on“ oder „Every little kiss“ in den Fokus rücke, sondern dieses Titelstück seines vierten Longplayers, bei dem er, wie es mir scheint, zurückfand zu den Wurzeln seiner musikalischen Identität: mehr Jazz, mehr Wagnis, weniger von all dem, was die Kunst der Melodie so vorausschaubar macht. „Harbor Lights“ ist sein Opus magnum: Kein Album des in Williamsburg (Virginia) geborenen US-Amerikaners ist eleganter ausbalanciert und reichhaltiger gespickt mit explosiven wie behände dargebotenen Wundertüten à la „Long tall cool one“ oder „The tide will rise“. Aber „Harbor Lights“ ist Prolog und Epilog in einem, fabelhaft gefühlvoll und voller Liebe. Wie Kalékos „Für Einen“:

Du bist der Leuchtturm.
Letztes Ziel.
Kannst Liebster, ruhig schlafen.
Die Andern …
das ist Wellenspiel,
Du aber bist der Hafen.