Wie frühlingsfrischer Feldlerchengesang regnet Joni Mitchells Stimme auf uns nieder. Seidenmatter Glanz umhüllt „Both sides now“, als wenn dieses Lied Papaver orientale wäre; ein Schmuckstück aus der aufblühenden Flower-Power-Ära, dessen kosmisches Strahlen bis heute keine Kraft eingebüßt hat – selbst nicht nach dem seltsamen Remake in diesem Jahrtausend, das unter dem Hinzufügen sphärischen Phlegmas der Melodie die Würde nahm. Um Himmels willen, nein, lasset diesen 1966er Folk-Diamanten nicht in das Tal des Vergänglichen werfen, hinunter ins brüllende Feuer auf nimmer Wiederhören, sondern laben wir uns am alleine mit Gitarre begleiteten Original, das wie Flüsse klingt, in denen Milch und Honig fließen. An diesen Ufern wollen wir singen, leise, in uns gekehrt und all unser Sein und Nichtsein auf links gedreht.

So bewegt war wohl auch (Mama) Cass Elliott, einst Mitglied von The Mamas and the Papas, die im regenbogenfarbenen Gewande, das ein bisschen nach Zeltverleih aussieht, auf der Bühne ihrer eigenen Mama Cass Show 1969 wie in Schlagsahne sitzt und Joni Mitchell anhimmelt. Joni, die Göttingleiche, die den fünften Bund der Gitarre mit einem Kapodaster versehen hat, um die Mensur zu verkürzen und die Tonart des Instruments zu erhöhen. Sie selbst bewegt sich elfengleich in eben diesen Höhen, rein stimmlich betrachtet, nicht körperlich, weil sie – der Lippenstift matt und keusch, den Blick zur Liebe gelenkt – auf einem Hocker mit molligem Kissen fast bewegungslos sitzt, sich nur wenig in der Melodie wiegend. Tai Chi für Anfänger, das man mitfühlen kann, selbst als Beobachter aus einer fernen Zeit. Danke, Youtube.

Ich glaube an das Einmaleins der Rockmusik. Es hat keine Zahlen, es gibt keine Grenzen, es setzt sich aus Noten, Griffen, Stilrichtungen, Emotionen und so ’nem Zeugs zusammen. „Both sides now“ ist ein Gigant aus Gefühl, der wie Buchenscheite brennt, während im Himmel eisig-schöne Polarlichter blitzen und Sterne unsere Namen tragen. Joni mitchellt mit ihren schlanken Fingern zwischen dem sechsten und zehnten Bund, der rechte Arm streicht duracellgleich über dem Schallloch mit drei „l“ rauf und runter, rauf und runter. Die in Alberta (Kanada) geborene Sängerin, Musikerin, Komponistin und Malerin, zutiefst poetisch veranlagt und ohne jeden Zweifel eine der bedeutendsten Songschreiberinnen im World Wide Business, blickt aus dunklen Kulleraugen mehr in sich hinein als hinaus in die Welt und versinkt in Leidenschaft. Das Beste, was einem Künstler passieren kann. Und ich und wir, die diese Szenerie in der 1969er Cass Show auch ohne Video vergangener Tage vor Augen halten können, versinken mit ihr.

I’ve looked at love
from both sides now.
From give and take
and still somehow.
It’s love’s illusions that I recall.
I really don’t know love,
Really don’t know love at all.

Wenn Lieder eine Heimat sein können: Dieses hier gehört definitiv dazu! Dass wir in Liebe uns täuschen, in Liebe verschmelzen, die Liebe nie verstehen („don’t know at all“) und sie von beiden Seiten sehen, dies wärmende Gefühl, dies Innigste in uns, ist das größte Geschenk, das wir mit uns tragen. Den ganzen weiten Weg entlang, mal schwer, mal federleicht. Wer nun naserümpfend diese „Love & Peace“-Botschaft noch nicht für sich sortieren kann, dem rate ich dringend, mal vier Minuten lang die Augen zu schließen, die Klappe zu halten und „Both sides now“ in etwa so zu genießen, wie man es mit einem alten Portwein macht: lächelnd und in aller Ruhe.