Es ist nicht unüblich, dass in der Hi(t)Story ein Künstler oder eine Band mehrfach Beachtung finden. Hall & Oates, Rolling Stones, Whitesnake, Carrack, Collins, Cray – ja, Herrschaftszeiten, die haben sich zig geile Nummern aus den Synapsen bröseln lassen, Griffe und Noten zu Papier gebracht und drauflos gespielt, als wenn‘s kein Morgen gäbe. Aber dass ein und derselbe Song hier zum zweiten Mal auserwählt wird, das ist Premiere! Jedoch die Ernsthaftigkeit, mit der Julia Neigel „Überall“ kredenzt, dieses kräftige Aus-der-Seele-singen für die stillen Helden unseres Alltags, dieses spürbar epochale Moment des Innehaltens für die Starken, die keine Schwäche zeigen, das vermag in Krisen wie diesen besonders zu menscheln – und ich wünschte mir Zeilen wie

„Und Deine Hände
helfen jederzeit.
Schenkst nur mit Freude,
tröstest anderer Leute Leid.
Bist eine Perle,
ob jung ob alt.
Hältst viel zusammen,
kümmerst ohne Vorbehalt.
Du bringst immer andere zum Ziel.
Und auf Deinen Schultern
lastet viel zu viel.“

mit weißen Wattewolken ins Himmelszelt zeichnen zu können, damit sie jeder lesen kann!
Es ist ein Manifest für Empathie und Anerkennung, aus heißem Herzen sprudelnd, muskulös in die Muscheln gesemmelt. Als Ballade wäre der Song verloren, aber als markige Uptempo-Nummer hinterlässt er ein Tattoo. „Überall“ ist überall, jeden Tag, jede Stunde. Dieser Rocksong gibt denen Rückenwind, die nicht zur Fraktion der Dauerplauderer und Dilettanten gehören, sondern sich für die gute Sache einsetzen. Er ist Menschen gewidmet, die wissen, was wirklich wichtig ist. Punkt.

Eine Laudatio der Barmherzigkeit ergießt sich über uns Zuhörende, als sei es Medizin. Oberärztin Julia verabreicht besten Stoff, zusammengemischt vor mehr als 22 Jahren, als ihre Band und sie noch eine Einheit waren, bevor Urheberrechtsstreitigkeiten zum totalen Bruch führten. Die Töne indes sind nicht verklungen, und wer auch immer wieviel zur Komposition von „Überall“ beitrug: Er hat seinen Job verdammt gut gemacht!

Eine Nummer aus Stahl und Rosenbüten, deren Botschaft jetzt unbedingt nicht auf den leeren Straßen unserer Welt und nicht im stillen Kämmerlein verfliegen sollte. Ich öffne die Fenster , dreh’s laut auf, bis zum Anschlag, und lasse „Überall“ als Kraftquelle dorthin fliegen und niederträufeln, wo bis zum Anschlag geschuftet wird: in den Adern und Nerven und Herzen und Köpfen derer, die sich mit unglaublicher Energie und Hingabe – manchmal bis zur Selbstaufgabe – gegen den ganzen Corona-Schlamassel stemmen.

Dieses Lied ist für die Engel unseres Alltags

Hört gut zu, Ihr Engel des Alltags, Ihr, die in Kliniken, Praxen, Pflegeeinrichtungen und „Überall“ bis an die Grenzen des Möglichen geht, Ihr, die auf Nachbarn Acht gebt, in diesen wilden Zeiten Distanz schafft, um Nähe zu spenden, Ihr, die nicht meckert und motzt, sondern die Dinge anpackt, um sie zu einem guten Ende zu bringen, wo ein Anfang ist. Dieser Song, geschmiedet aus dem Sternenstaub der Dankbarkeit und Liebe, ist nun Euch gewidmet.

Und wenn ich es nun recht bedenke, sollte ich in den kommenden Wochen „Help“ von Tina Turner, „Thank you“ von Led Zeppelin und noch ein paar andere Nummern aufs Tableau bringen, die uns alle eines lehren sollten: demütig zu sein anstatt das große Wort zu schwingen. Wichtig tun ist nur Mist. Wichtig sein ist entscheidend.